Verlangen wir zu viel?

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Die Reiterwelt ist ein großer Markt, in dem viele Trainer und Gurus um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Es gibt teilweise richtig gutes Marketing! Und schwupps, hat man schon den nächsten Onlinekurs gekauft, obwohl man noch keine Zeit hatte, in die letzten zwei, die man dieses Jahr schon gekauft hatte, reinzuschauen. Wer weiß, wovon ich spreche…? Warum passiert uns das?
Ich habe den Eindruck, dass wir heutzutage viel von unseren Pferden verlangen. Sie sollen sich hundertprozentig und immer konzentrieren, sollen absolut gelassen sein und sich nie vor etwas fürchten, nicht ihrem Fluchtinstinkt folgen. Sie sollen ein bisschen springen können, ein paar Tricks draufhaben, eine gute Grundlage in der Dressur haben, gern ins Gelände gehen, vielleicht etwas Working Equitation…und dann gab es da noch den Kurs zur Freiheitsdressur, an dem man teilnehmen will.
Bitte versteht mich nicht falsch. Eine abwechslungsreiche Ausbildung ist etwas Tolles. Je besser wir unseren Pferden die Welt zeigen können und eine gute Vertrauensbasis aufbauen, desto sicherer und freudvoller können wir miteinander Zeit verbringen, und desto selbstbewusster werden sowohl wir als auch unser Pferd.
Aber oft kommt es mir so vor, also ob man aus Pferden eher als ideale Zielscheibe für Marketing und Selbstverwirklichung ansieht. Wir sollen seine Leistung optimieren, sein Potential entfalten. Wir suchen Erfolgsrezepte und willige Kooperation. Es gibt da viel Druck, bei der Ausbildung seines Pferdes etwas vorweisen zu können, besonders beim “normalen” Pferdebesitzer. Wie oft komme ich zu einem neuen Schüler und dieser entschuldigt sich dafür meist “nur” mit dem Pferd ins Gelände zu gehen und nur ab und zu mal ein bisschen Dressur auf dem Platz zu machen. Dafür sollte man sich nicht entschuldigen müssen!
Wenn ich so an die Zeit zurückdenke, in der ich mit dem Reiten anfing, hat man Pferde wesentlich besser so akzeptiert, wie sie waren. Ließ ein Pferd sich nicht anbinden, hat man es halt nicht angebunden. In der Reitschule, in der ich als Kind war, gab es ein Pferd, dass gebissen hat, wenn man es am Bauch geputzt hat. Also ordnete die Reitlehrerin an, dies auf ein Minimum zu beschränken und nur die Gurtlage vorsichtig zu bürsten. Heute würde man in zig Facebookgruppen fragen, wie man dem Pferd das abgewöhnen kann. Gerade vor Kurzem folgte ich einem Post, wo eine Besitzerin beschrieb, dass sich ihr Pferd immer mehr aufspule, wenn es angebunden sei, und sich dabei sogar schon oft verletzt habe. Mein erster Gedanke war “Vielleicht erstmal nicht anbinden?”, jedoch machte niemand diesen Vorschlag, sondern es gab allerlei Anregungen und verschiedenste Methoden, dem Pferd doch das angebunden Stehen beizubringen.
Ein anderes Beispiel ist, das viele Reiter oft hundertprozentige Aufmerksamkeit von ihrem Pferd fordern. Immer. Viele Pferde haben damit Schwierigkeiten, und dann werde ich als Trainer oft gefragt, welche Übungen ich zur Steigerung der Aufmerksamkeit empfehlen kann. Nun ist es ja so, dass Pferde kein Problem mit Aufmerksamkeit haben, wenn sie etwas interessiert. Stellen wir uns mit einem Beutel Möhren vor unser Pferd an den Zaun, kann es ziemlich ausdauernd darin sein, uns mit seinem Blick zu durchbohren. Für mich ist die Frage also eher, ob ich interessant genug bin für mein Pferd, als spezielle Übungen zu machen, die sozusagen künstlich Aufmerksamkeit erzeugen. Ob das dann wirklich Aufmerksamkeit ist oder das Pferd eher Angst hat, wegzuschauen, ist wieder ein anderes Thema. Meiner Meinung nach ist auch nicht notwendig, dass das Pferd immer zu hundert Prozent aufmerksam ist. Ich finde es in Ordnung, wenn es mal schaut, was da los ist oder wenn sie mal kurz abschalten, weil wir intensiv geübt haben. Vielleicht kennst du einen
dieser Menschen, die gern viel reden und dabei auch die volle Aufmerksamkeit ihres Gegenübers einfordern. Danach ist man immer total kaputt. Ich kenne zwei solche Kandidaten und muss danach erstmal kurz abschalten oder Schokolade essen. Die meisten Pferde sind ja total gern bei uns, wenn sie sich in unserer Gesellschaft wohlfühlen. Und, wenn wir ehrlich sind, sind wir selbst immer zu 100% bei der Sache, wenn wir mit unseren Pferden arbeiten? Bent Branderup sagt oft, dass wir heute nichts mehr mit unseren Pferden tun müssen, außer Zeit schön zu verbringen. Ich würde gern hinzufügen, dass unsere Pferde nichts sind, was wir optimieren müssen. Wir tun einfach, was uns beiden Spaß macht. Mein Herz schlägt für die akademische Reitkunst, und meine Motivation ist so groß, dass ich Pferde dafür begeistern kann. Sie spüren meine Passion und lassen sich davon anstecken. Das geht aber nicht jedem so, und wenn jemand lieber ausreitet, ist das doch wunderbar. Ist mein Pferd total aufmerksam, wenn ich Freiarbeit mache, schaltet jedoch ab, wenn ich die Longe einhake – warum dann nicht lieber frei arbeiten?
Ich würde mir wünschen, dass wir unsere Pferde so akzeptieren können, wie sie sind, und sie nicht als Projekte ansehen oder unsere Wünsche auf sie projizieren. Das eine Pferd ist etwas elektrisch, das andere denkt langsam, eines ist voll der Spaßvogel und braucht viel Abwechslung, und das andere braucht einen geregelten Tagesablauf. Erinnern wir uns ruhig ab und zu daran, dass wir als Kinder oft einfach nur so zum Stall fuhren, um mit Pferden zusammen zu sein. Und wie viel Freude uns das bereitete. Ich denke, dann könnten sich viele Probleme, die wir denken zu haben, ganz von selbst auflösen.

Bettina Biolik

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