Vereinfachung und deren Tücken
Wir Menschen mögen es einfach. Wir kategorisieren gern, zerlegen Komplexes in kleine Schritte, oder finden ein Schema, das sich gut auf Alles anwenden lässt. Jedoch ist diese Tendenz im Zusammenhang mit Pferden, sei es Verhalten, Umgang oder Reiten, durchaus mit Vorsicht zu genießen.
Vor einiger Zeit verfolgte ich einen Post auf Facebook, in dem ein kurzer Film einer Tiersendung diskutiert wurde. Darin wurde eine Methode zur Kommunikation mit Pferden umrissen. Der Film stoß nicht bei jedem auf Zustimmung und es wurden Argumente ausgetauscht. Einer der Sätze, der fiel, war in etwa “Wälzen ist eine Dominanzgeste.” Ein anderer war “Pferde gehen nur rückwärts, wenn sie vor dem Ranghöheren weichen. Wenn wir also rückwärtsgehen, signalisieren wir dem Pferd automatisch unsere Unterlegenheit.” Es ging dabei übrigens nicht um das Rückwärtsgehen in der Bodenarbeit, sondern darum, nicht beim Hufauskratzen rückwärts von einem Huf zum nächsten zu gehen. Diese Diskussion brachte mich zum Nachdenken, und zwar über Vereinfachung und welche Probleme diese mit sich führen kann.
Eines möchte ich vorwegnehmen: Natürlich muss ich oft Dinge im Zusammenhang mit dem Pferdetraining vereinfachen. Als Lehrende, damit ich meine Schüler nicht mit Informationen überfrachte und sie die einzelnen Schritte verstehen und üben können. Genauso als Ausbilderin des Pferdes vor mir, denn auch das Pferd schätzt einen klaren Aufbau und das Lob für viele, kleine Schritte.
Aber es gibt einen Punkt, an dem zu viel Vereinfachung nicht mehr zielführend, ja sogar problematisch wird.
Pferdeverhalten ist da eine ergiebige Fundgrube. Nehmen wir unser Beispiel aus der Internetdiskussion. Wälzen kann eine Dominanzgeste sein, ja. Aber es ist so viel mehr als das. Wälzen dient in erster Linie der Haut- und Fellpflege und ist darüber hinaus Teil des Sozial- und Bindungsverhaltens. Wir alle haben vermutlich schon einmal gesehen, wie das Wälzen eines Pferdes sofort die anderen Gruppenmitglieder “angesteckt” hat. Pferde haben Lieblingsplätze, wo der Sand genau richtig ist, und wo sich regelrecht tiefe Kuhlen bilden, weil alle Herdenmitglieder diese nutzen. Bevor gewälzt wird gibt es oft ein richtiges Ritual aus Boden beschnüffeln, mit dem Vorderbein kratzen und die Beschaffenheit des Bodens prüfen, vielleicht sich ein paar Mal um die eigene Achse drehen, und dann erst runter auf den Boden. Manche Pferde schaffen es nicht, sich über den Rücken auf die andere Seite zu rollen, sie stehen dann wieder auf und wiederholen das Ganze auf der anderen Seite. Für die Funktion des Haarkleides ist es wichtig, dass das Fell nicht plattgedrückt, verschwitzt oder nass ist, also wird es mit Sand getrocknet und wieder aufgestellt. Außerdem kann man so lästige Fliegen und anderes Ungeziefer loswerden, wenn auch nur kurz. Eine Matschkruste schützt außerdem vor Plagegeistern. Jetzt kommt das “Und”: beim Wälzen werden auch Duftmarken hinterlassen, wodurch es auch Teil des Dominanzverhaltens ist. Dieses jetzt aber nur darauf zu reduzieren kann zu Missverständnissen führen.
Sagen wir, wir kommen mit unserem Pferd am Kappzaum in die Reithalle und es möchte sich sofort wälzen. Ich erlebe das oft auf Kursen oder beim Unterrichten. Der Mensch stoppt das Pferd und sagt mir, er müsse das unterbinden, da sonst das Pferd der Chef ist. Dabei fand das Pferd den Hallensand vielleicht einfach nur unwiderstehlich zur Fellpflege. Darüber hinaus kann Wälzen, im Zusammenhang des Trainings, auch eine Übersprunghandlung sein und kann somit
ein wertvoller Hinweis auf eventuellen Stress sein. Der Mensch denkt “wälzen = dominant”, und unterstellt seinem Pferd damit eine Absicht, die es gar nicht hatte, oder übersieht eventuell, dass die Halle und das darin stattfindende Training für das Tier mit viel Stress behaftet ist. Es würde gerne gehen, aber da dies nicht möglich ist, wälzt es sich eben. Eventuell macht der Mensch dann noch Übungen, die die Dominanz des Pferdes eindämmen sollen und fügt noch mehr Stress hinzu. Es ist also wichtig, ein Pferdeverhalten immer der Situation entsprechend einzuordnen und gut auf eventuelle Stresssignale oder Wohlfühlanzeichen des Pferdes zu achten.
Auch bei der Ausbildung von Pferd und Reiter kann zu starke Vereinfachung zu Problemen führen. Schauen wir das Beispiel Schulterherein reiten an.
Ist der Reitschüler bereit, das Schulterherein zu lernen, möchte er gern vom Reitlehrer wissen, welche Hilfen denn gegeben werden sollen. Der Reitlehrer könnte nun antworten: “Mit dem äußeren Zügel die Schulter etwas hereinführen und mit dem inneren Schenkel den inneren Hinterfuß in der Spur des äußeren Vorderbeins halten. Also äußerer Zügel, innerer Schenkel.” Das ist durchaus richtig, aber reduzieren wir die Hilfengebung im Schulterherein dauerhaft auf nur diese zwei Hilfen, dann entfällt die wohl wichtigste Hilfe – der Sitz, und damit auch das Erfühlen lernen der korrekten Form der Wirbelsäule des Pferdes. Der eigentlich wichtige Aspekt am Schulterherein ist, dass durch das Vorgreifen des inneren Hinterfußes die innere Hüfte vorkommt, der Brustkorb innen etwas nach unten rotiert, was zu vermehrter Freiheit der äußeren Schulter und korrekter Stellung und Biegung führt. Sind diese Zusammenhänge dem Reiter nicht bewusst, und kann er diese nicht fühlen, kann er jahrelang eine Übung reiten, die zwar irgendwie nach Schulterherein aussieht, jedoch eigentlich keines ist. Das Pferd kann z.B. mit dem inneren Hinterfuß über den Schwerpunkt hinaustreten, wodurch die innere Hüfte zurückbleibt, der Brustkorb außen runter rotiert, und das Pferd schwer auf der äußeren Schulter wird. Es kommt in Konterbiegung und -stellung. Dann reiten wir sozusagen aus Versehen eine Anti-Lektion.
Wie geht man denn nun am besten vor? Meine Erfahrung ist, dass es zunächst ruhig einfach sein darf, dann sollte es komplizierter werden, und dann wird es von selbst wieder einfach. Lernen wir etwas Neues, dann hilft es uns nicht, wenn wir sofort alle Aspekt und Schwierigkeiten mit einbeziehen. Wir denken dann vermutlich: “Das ist zu schwierig, das schaffe ich nie!” Wenn wir erste Erfahrungen mit einer Sache haben, können wir uns den Feinheiten und Knackpunkten widmen. Dann haben wir manchmal das Gefühl, dass uns die Sache überfordert und wir es nie ganz beherrschen können. Nach und nach eignen wir uns aber mehr Kompetenz an und dann kommt der Moment, in dem all die Puzzelteile passen und wieder ein Ganzes daraus wird. Dann können wir wieder in eine neue Runde gehen und weitere Details hinzufügen. Bleiben wir stets bei der Vereinfachung, die zu Beginn notwendig war, laufen wir Gefahr, die Fehler, die wir uns zu Beginn erlauben durften oder sogar mussten, nicht als solche zu begreifen und uns fehlerhafte Bewegungsmuster anzugewöhnen oder ein Pferdeverhalten nicht richtig einordnen zu können, ohne uns dessen bewusst zu sein. Natürlich heißt einfach nicht automatisch falsch. Viele Dinge sind eben sehr durchschaubar und leicht. Andere jedoch nicht. Es ist ein bisschen wie eine neue Sprache lernen. Manche Wörter haben nur eine Bedeutung, andere haben sehr viele. Zunächst ist “to have” einfach nur “haben”. Dann lernen wir, dass es auch “müssen”, “besitzen” oder “aufweisen” bedeuten kann, und dass es in Kombination mit Präpositionen und anderen Wörter sehr viele andere Bedeutungen hat. Würden wir gleich alle Bedeutungen von “to have” lernen müssen, könnten wir uns das nicht
behalten. Bleiben wir nur bei der einen Bedeutung “haben”, kommt es zu Missverständnissen und wir stoßen nie zu den Feinheiten der englischen Sprache vor. “To have” ist da tatsächlich ein bisschen wie das Schulterherein – es ist eines der ersten Verben, die man lernt, hat aber auch über 600 Kollokationen (Wortverbindungen), in denen es vielfältige Bedeutungen hat. Es ist essentieller Baustein und Komplexität zugleich.
Seien wir uns also dessen Bewusst, dass Vereinfachung oft ein notwendiges Übel ist, sie jedoch auch ihre Tücken hat und dass unser Lernen im Bereich der Pferde wohl nie ganz abgeschlossen werden kann. Denn, wie es so schön heißt, ist ein Leben zu kurz, um Reiten zu lernen.
Bettina Biolik
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